Er habe die Arbeiten dieses Künstlers selbst erst vor drei Jahren kennengelernt, gestand Klaus Albrecht Schröder.
Umso eindringlicher lud der Albertina-Generaldirektor am Freitag dazu ein, Martin Noël dank der ab Sonntag gezeigten Retrospektive zu entdecken. Denn immerhin habe dieser – 2010 erst 54-jährig verstorben – „den Holzschnitt und die Druckgrafik in die Kunst des 21. Jahrhunderts gerettet“, meinte Schröder, der die 65 Werke umfassende Schau auch kuratiert hat.
Die Albertina feiert am Sonntag eigentlich mit zwei neuen Ausstellungen ihre Wiederöffnung nach dem dreiwöchigen Lockdown. Doch während man bei der neu zusammengestellten Auswahl hauseigener Sammlungsbestände nach 1945 unter dem Titel „Andy Warhol bis Cecily Brown“ (bis 20. Februar 2022) auf rund 40 Exponate altbekannter Kunstgrößen – von eben Warhol und Brown über Roy Lichtenstein bis zu Mel Ramos – trifft, lässt sich mit der ersten Noël-Retrospektive in Österreich tatsächlich Neuland betreten.
Noël, 1956 in Berlin geboren, sei eigentlich ein Konzeptkünstler, erklärte der Albertina-Chef in einem Pressegespräch – denn: „Nichts wird erfunden. Alles wird gefunden.“ Wichtiges gestalterische Element seines abstrakten Oeuvres ist die Linie. „Er war obsessiv von der Linie begeistert. Und er ist überall über sie gestolpert“, verwies Schröder auf die unterschiedlichsten Inspirationsquellen des Künstlers – sei es die Kunstgeschichte oder der Riss im Asphalt.
Von Letzterem zeugt etwa die umfangreiche New-York-Serie („New York Drawing Objects“), die den Besucherinnen und Besuchern der im Untergeschoß angesiedelten Ausstellung gleich am Anfang ins Auge fällt. 16 graue Tafeln, die alle ein zartes Gespinst aus weißen Linien durchzieht, sind hier rasterartig gehängt. Sie entstanden Ende der 1990er-Jahre. Noël war zu dieser Zeit im Big Apple und fand Jahre nach dem ersten Terroranschlag im World Trade Center, bei dem 1993 in der Tiefgarage des Nordturms eine Bombe explodiert war, nach wie vor ein Netz aus Rissen im Bodenbelag des Platzes. Tagelang pauste er diese letzten Spuren des schrecklichen Ereignisses ab, schnitt die Linienverläufe danach in graues Linoleum und füllte die Vertiefungen anschließend weiß aus.
Während die New-York-Serie auf den ersten Blick wie gemalt aussieht, zeigt Noël in vielen anderen Arbeiten ganz offen die Bearbeitung des Holzes. Das mache sie gewissermaßen zu Objekten, meinte Schröder. Ideen für seine Formgebilde sammelte der Künstler auch bei Spaziergängen durch Ausstellungen oder beim Blättern in Katalogen. Als Vorlage für den Druckstock zu „Jeremias“ (1996) diente beispielsweise ein stark herangezoomter Ausschnitt aus einem Werk Rembrandts – möglicherweise die Knopfleiste aus der Studie für das radierte Porträt des Cornelis Claesz Anslo.
Viel Raum in der Retrospektive nimmt die „Otto“-Serie ein. Sie ist eine Hommage an den von Noël verehrten Maler Otto Freundlich. 1878 im polnischen Stolp geboren und 1943 im Konzentrationslager ermordet, ist Freundlich vor allem für seine freihändig gemalten geometrischen Farbmosaike bekannt. Noël kopiert das Konzept nicht einfach, sondern schneidet zwischen die einzelnen Formen Linien und bemalt die dadurch abgesetzten viereckigen Flächen einmal in Rot und Orange, einmal in Himmelblau oder Zartrosa.
Am Ende seines Lebens findet der inzwischen schwer von seiner Hirntumorerkrankung gezeichnete und eingeschränkte Künstler dann doch noch zur reinen Malerei. Fünf Gemälde entstehen, eines davon heißt „M.L.“ (2010) – die Abkürzung steht für „Mein Leben“. Auf strahlend-weißem Hintergrund schichtet Noël vielfarbige Pinselstriche zu einem filigranen Turm auf. „Seine letzten Werke hat er mit links gemalt. Er wusste schon, dass er sterben wird“, erinnerte sich die ebenfalls anwesende Witwe Margarete Noël heute, die sich über die Würdigung ihres Mannes durch die Albertina sehr gerührt zeigte. Man sehe an der Farbigkeit dieser Arbeit, dass man sich vor dem Tod nicht fürchten müsse: „Es scheint dort sehr hell zu sein.“
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