Seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl hat sich die 30-Kilometer-Sperrzone rund um den Reaktor des Kernkraftwerks zu einem Naturschutzgebiet entwickelt.
Luchse, Wölfe, Adler, Wildpferde und andere seltene Tiere leben in dem fast menschenleeren, verwilderten Gebiet. In ihrer Ausstellung „Chernobyl Safari“ (9. März – 5. Juni 2022) in der MAK GALERIE unternimmt die Künstlerin Anna Jermolaewa den Versuch, die Fauna dieses Areals als eine Welt ohne Menschen zu denken. Obwohl die lokale Tierwelt konstant einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt war, konnte sie sich entwickeln und vermehren, da in dieser Zone aufgrund der Evakuierung der Bevölkerung keine Eingriffe in den Lebensraum der Tiere mehr erfolgten. Tatsächlich ist das Gebiet heute ein Zufluchtsort für mehr als 400 Tierarten, darunter 50, die als gefährdet eingestuft werden.
„Chernobyl Safari“ zeigt das Anthropozän, in dem wir leben, allerdings von den Menschen verlassen. Da wir die Welt nicht ohne unsere Anwesenheit erfahren können, beruht die Vision einer menschenleeren Welt ausschließlich auf unserer Vorstellungskraft. Anna Jermolaewas Safari deutet letztendlich an, dass sich Tiere in einem vom Menschen zerstörten und verlassenen Habitat durchaus wohlfühlen können.
Das Projekt der Künstlerin lässt Parallelen zum naturphilosophischen Begriff der Tiefenökologie erkennen. Dieser geht davon aus, dass die Menschheit gegenüber Pflanzen oder Tieren nicht als überlegen anzusehen und zu bevorzugen ist, wenn ökologische Entscheidungen zu treffen sind. Wie die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zeigt, hat die Menschheit das Potenzial, diesen Planeten mutwillig zu zerstören. Von einem ökologischen Standpunkt aus betrachtet, hätte der Planet ohne Menschen eine bessere Zukunft.
Die in Wien lebende Künstlerin Anna Jermolaewa besuchte die Sperrzone 2014 und ein weiteres Mal 2021, als sie eine Safari in dieses unverhofft entstandene Rückzugsgebiet für Wildtiere unternahm. Sie streifte durch Wälder und Felder und sammelte mit ihrer Kamera – teilweise mittels Installation von Foto- und Wildkameras – sogenannte „Safaritrophäen“.
Jermolaewas Herangehensweise ist allerdings nicht dokumentarisch: Die Tiere, die sie nicht mit der Kamera einfangen konnte, skizzierte sie in Aquarellen. Zu einigen dieser Studien inspirierten sie weit verbreitete Mythen über mutierte und radioaktiv verseuchte „Monster“ in dieser Zone. So nimmt uns die Künstlerin mit auf eine Reise durch einen postapokalyptischen Raum und knüpft an eine mythische Vorstellungswelt an. Es entsteht das Bild einer Landschaft, die nicht zu fassen ist.
Die österreichisch-russische Künstlerin Anna Jermolaewa (geb. 1970) beleuchtet hyperkulturelle Szenarien unserer Zeit. Geboren in Leningrad, das nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder in St. Petersburg umbenannt wurde, flüchtete Jermolaewa aus politischen Gründen im Mai 1989 nach Österreich. Aus Versatzstücken verschiedener historischer Kontexte und gesellschaftspolitischer Brennpunkte zeichnet sie ambivalente Bilder der Gegenwart.
Die Ausstellung wird im Rahmen der FOTO WIEN 2022 präsentiert.
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