Auschwitz als Aufreger: Yasmina Rezas Roman „Serge“

Yasmina Reza kennt man seit ihren Stücken „KUNST“ (1994), „Drei Mal Leben“ (2000) oder „Der Gott des Gemetzels“ (2006) als scharfe Beobachterin der Mittelschicht, die ihre Figuren in decouvrierende Auseinandersetzungen treibt.

Boulevard mit Tiefgang. In ihrer Prosa ist die Pariserin weniger erfolgreich. Auch ihr neuer Roman „Serge“ lässt den nüchternen Blick in Abgründe vermissen. Obwohl er einen Aufreger eingebaut hat: Ein Familienbesuch in Auschwitz läuft aus dem Ruder.

Titelfigur Serge ist der Älteste von drei Geschwistern der französischen Familie Popper, die sich bisher mit ihren aus Ungarn stammenden jüdischen Vorfahren und deren Verfolgung und Vernichtung im Holocaust kaum auseinandergesetzt haben. Als die Mutter von Serge, Nana und dem Ich-Erzähler Jean stirbt, möchte sie „nicht bei den Juden“ begraben, sondern verbrannt werden. „Ich verstehe nicht, warum Omi sich hat einäschern lassen“, lässt Serges Tochter Joséphine nach dem Begräbnis auf dem Friedhof Père-Lachaise die Familie wissen. „Die Vorstellung, verbrannt zu werden, ist verrückt, nach allem, was ihre Familie durchgemacht hat.“ Sie habe beschlossen, „dieses Jahr nach Osvitz zu fahren“. Nicht einmal den Ort des Grauens richtig aussprechen könne die ignorante Tochter, der er eben erst „eine Augenbrauen-Fortbildung“ bezahlt habe, ereifert sich Serge – der jedoch mit Jean und Nana die Tochter nach Auschwitz begleiten wird.

Vater, Onkel und Tante fahren also mit Joséphine nach Krakau und in die KZ-Gedenkstätten. Der Besuch wird zum Fiasko. Das liegt vor allem an Serge, der in seinem korrekten Anzug zwischen all‘ den (allzu) leicht bekleideten Touristen unter den für April ungewöhnlichen Temperaturen leidet und sich kaum am Museum, der Gaskammer oder der „Judenrampe“ interessiert zeigt – zum Ärger seiner Schwester Nana, mit der er sich gründlich überwirft. Das liegt aber mindestens ebenso an seiner ostentativen Geringschätzung für seinen aus Spanien stammenden Schwager und an der vermeintlichen Undankbarkeit seines als Koch tätigen Neffen, dem er ein Praktikum organisiert hat. Und er wird in Kürze anlässlich eines gesundheitlichen Routine-Checks eine vernichtende Diagnose erhalten.

Der Polen-Besuch umfasst 75 Seiten und ist die Kernszene des Buches. Doch hat er mit der Familie Popper und ihren eigenen Problemen wesentlich mehr zu tun als mit einem Paradigmenwechsel der Holocaust-Erinnerungskultur. „Serge“ schlage ein neues Kapitel der Holocaust-Literatur der Nachgeborenen-Generation auf, befinden manche Rezensenten. Zwar lässt Reza Serges Schwager eine weitere Auschwitz-Szene schildern, bei der eine Klasse über den krampfhaften Bemühungen eines Lehrers, seine Schüler zu einer angemessenen Haltung zu vergattern, in Lachen ausbricht, und auch der blasse Erzähler konstatiert, ihm wolle „keine Gefühlsreaktion gelingen. Ich schwanke zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will.“ Dennoch bleiben die betreffenden Szenen an der Oberfläche. Man muss sich nur vorstellen, was ein hellsichtiger und scharfzüngiger großer Liebender wie George Tabori daraus gemacht hätte.

Es geht in „Serge“ nicht um das einstige Leid der Verfolgten, sondern um das Leiden der Familie an sich selbst. Es geht um die Konflikte der beiden miteinander verbündeten Brüder mit ihrer Schwester und ihren Lebensgefährtinnen. Es geht um das Sterben von Cousin Maurice, vor allem aber geht es um das Unverständnis gegenüber der nächsten Generation, Serges Tochter Joséphine und seinen Neffen Victor etwa, oder um die beiden ungleichen Buben Marzio und Luc, die bei einem Geburtstagsfest gar nichts miteinander anzufangen wissen. Die Generation Serge hat nicht nur zu den Vorfahren, sondern auch zu den Nachgeborenen keine Verbindung – darin liegt die eigentliche Tragik dieser von Yasmina Reza flott erzählten Familiengeschichte.

Verblüffend sind die Parallelen des im Original vor einem Jahr erschienenen Romans zu „Vernichtung“, dem kürzlich veröffentlichten neuen Buch von Michel Houellebecq – von der breit angelegten Familienaufstellung, den Besuchen in Pflegeheimen bis zum finalen Einbruch von Krankheit und Tod in das Leben der Hauptfigur. Auch bei Reza ist es eher ein Abgesang als eine Abrechnung. Und hier wie dort: kein Grund zur Aufregung.

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