Geschichte ist niemals abgeschlossen.
Das wurde auch in Zusammenhang mit der Regierungsumbildung deutlich. Unversehens geriet der neue Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) wegen eines Dollfuß-Museums in jener Gemeinde, in der er Bürgermeister ist, unter Beschuss. Und ebenso unversehens wird ein 500-seitiger Sammelband mit dem sperrigen Titel „(K)ein Austrofaschismus? Studien zum Herrschaftssystem 1933 – 1938“ zu einem Schlüsselwerk für die aktuelle politische Debatte.
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) wählte in seiner Antrittspressekonferenz am Dienstag bei der Verteidigung Karners wohl bewusst den Begriff „Kanzlerdiktatur“, der von Helmut Wohnout, dem früheren Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts und heutigen Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, vor einigen Jahren in die Debatte eingeführt wurde. Denn die Auseinandersetzung um die Zeit zwischen Erster Republik und NS-Herrschaft ist vor allem eine um Begriffe. Das zeigte sich schon bei der Errichtung des „Haus der Geschichte Österreich“ (hdgö), wo man sich nach langen Diskussionen für „Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur“ entschlossen hatte, in einer interaktiven Installation aber auch die Begriffe „Austrofaschismus“, „Ständestaat“, „autoritärer Ständestaat“ und „Kanzlerdiktatur“ zur Diskussion stellte.
Warum ausgerechnet der emeritierte Professor für Neuere Allgemeine und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich Carlo Moos als Herausgeber des kürzlich erschienenen Sammelbands angefragt wurde, dazu äußert er selbst eine Vermutung: „Als Schweizer dürfte für mich gesprochen haben, dass ich im Austrofaschismus-Kontext zu keiner einschlägigen ‚Schule‘ gehöre.“ Er habe „das Problem der Benennung und Qualifizierung dieser Krisenjahre“ in seiner ganzen Breite angehen wollen – und sei sofort durch die Verwendung des Begriffs Austrofaschismus im Titel von mancher Seite unter Beschuss geraten, schreibt er.
Tatsächlich ist es ihm gelungen, 31 Autorinnen und Autoren zur Mitarbeit zu bewegen. Sie reichen vom Politologen Emmerich Talos, einem klaren Verfechter des Begriffs Austrofaschismus, bis zu Helmut Wohnout und dem Historiker Dieter A. Binder auf der anderen Seite. Von Oliver Rathkolb bis Hannes Leidinger, von Kurt Bauer bis Ilse Reiter-Zatloukal sind fast alle infrage Kommenden bei den 34 Beiträgen mit alten oder neuen Aufsätzen vertreten. Ein einziger Angefragter habe sich verweigert, schreibt Moos. Wie rasch das aneinander Reiben der Positionen zum Funkenflug führen konnte, zeigt die (leider nur unvollständig) abgedruckte, medial geführte Kontroverse zwischen dem Autor Robert Menasse und dem Zeithistoriker Gerhard Botz anlässlich des 70-Jahr-Gedenkens an den 12. Februar 1934.
Neben interessanten Spezial-Exkursen wie Christian Glanz‘ „Anmerkungen zur Rolle von Hermann Leopoldi im Austrofaschismus“, Betrachtungen zum Kurs Vorarlbergs in jener Zeit oder Markus Wurzers Aufsatz über „Disziplinarverfahren gegen Studierende im Austrofaschismus“ sind es immer wieder Abgrenzungs- und Definitionsfragen, die aus den unterschiedlichsten Ausgangspositionen aufgeworfen werden. Wie verhält sich der österreichische zum italienischen Faschismus? Wie sieht es mit Führerkult und Rassismus aus? Wie ging das autoritäre Regime mit seinen Gegnern um? Was war seine ideologische Grundlage?about:blank
Und immer wieder Dollfuß. Sein aktuelles Bild in der Öffentlichkeit wertet die Historikerin Lucile Dreidemy, die mit ihrer Kritik am Dollfuß-Museum die jüngste Debatte losgetreten hat, als späten propagandistischen Erfolg: „Die verschiedenen Facetten der Selbst- und posthumen Inszenierung von Dollfuß, mal in der Uniform des prototypischen neuen Führers Österreichs, mal als volksnaher Politiker und Familienvater, mal als mitleid- und sympathiewürdiger Märtyrerkanzler, trugen letztlich effizient dazu bei, ein salonfähiges Bild des Diktators zu konstruieren, das das Regime acht Dekaden überdauerte.“ Botz etwa weist gar darauf hin, Dollfuß sei „seiner ganzen Erscheinung nach wenig beeindruckend, eher linkisch-‚bäuerlich'“ gewesen, „im Gegensatz zu den selbstbewussten charismatischen Volksführern à la Mussolini und Hitler“.
Die Diskussion über seine Bewertung als Diktator oder als „Licht- und Schattenfigur“ relativiert sich freilich mit Blick auf eine 2007/8 durchgeführte Umfrage, die ebenfalls in dem Band zitiert wird: Rund die Hälfte der Befragten wusste mit dem Namen Dollfuß rein gar nichts anzufangen. Entsprechend ernüchternd liest sich Moos‘ Conclusio, dass sein Sammelband vor allem „die Vielfalt möglicher Zugriffe und unterschiedlicher Umschreibungen der in die erheblich größere NS-Katastrophe mündenden End-Krisenjahre der österreichischen Ersten Republik“ illustriere. „Ob der Begriffsstreit damit obsolet geworden sein könnte, ist allerdings eine andere Frage.“
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