Nun auf Deutsch: Der neue Houellebecq-Roman „Vernichten“

Frankreich geht es im Jahr 2026 bestens. Die Wirtschaftsdaten sind ausgezeichnet, nur die Arbeitslosenrate könnte niedriger sein. Doch nicht der für den Aufschwung verantwortliche Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno, ein brillanter Technokrat, sondern ein populärer TV-Star wird in die Präsidentschaftswahl 2027 geschickt und macht das Rennen gegen den jungen Kandidaten des Rassemblement National. Das ist das Szenario von „Vernichten“, dem neuen Roman von Michel Houellebecq.

Mit Spannung wurde das am Dienstag, nur wenige Tage nach dem französischen Original „Anéantir“ in deutscher Übersetzung erscheinende Buch erwartet – bargen doch viele Romane Houellebecqs gesellschaftlichen Sprengstoff. Sein 2015 erschienener Roman „Unterwerfung“ etwa beschrieb den Wahlsieg eines muslimischen Politikers und die Einführung von Polygamie und Scharia im Frankreich des Jahres 2022. Nun, exakt zum Erreichen dieses Datums, ist seine Prognose deutlich weniger provokativ – doch beim genauen Hinsehen ebenso zynisch.

Der allseits respektierte regierende Präsident sucht in der Endphase seiner zweiten Amtszeit einen Platzhalter: Nach der Verfassung muss er nun eine Periode pausieren. Da kommt ihm ein medialer Hampelmann ohne eigene Ideen gelegener als der brillante Minister, der – französische Medien hyperventilieren deswegen schon seit Tagen – offenbar viele Züge von Bruno Le Maire, den amtierenden und mit dem Autor angeblich befreundeten Wirtschaftsminister trägt. Die später verwirklichte Verfassungsänderung wird nach US-Vorbild Midterm-Elections im Parlament einführen und das Amt des Premierministers abschaffen. De facto wird Bruno Juge dadurch zum wichtigsten Politiker Frankreichs. Doch weder ist Bruno die Hauptfigur des Romans, noch ist das Buch ein politischer Schlüsselroman. Er ist auf keinen einfachen Nenner zu bringen – und das ist gleichzeitig seine Stärke wie seine Schwäche.

„Vernichten“ beginnt als spannender Thriller, mit auf teurer Hochtechnologie basierenden Terroranschlägen, die den französischen Geheimdienst verzweifeln lassen. Weder weiß man, wer dahintersteckt, noch wie die Aktionen bewerkstelligt werden und was mit ihnen bezweckt wird. Ein Video der Enthauptung Brunos mittels Guillotine, das sich rasant im Internet verbreitet, ist ein perfekter digitaler Fake mit noch nie da gewesener Rechenleistung. Die Versenkung eines Riesen-Containerschiffes dagegen erfolgt tatsächlich – mittels präzisen Torpedoeinsatzes. Der 50-jährige Science Po-Absolvent Paul Raison ist aus zwei Gründen mitten im Geschehen der Krisensitzungen: Er zählt zum engsten Beraterstab Brunos und ist im Grunde sein einziger Vertrauter, und er ist Sohn eines legendären Geheimdienst-Offiziers, der nach einem Schlaganfall ins Wachkoma gefallen ist und zuletzt an seltsamen Internet-Fundstücken arbeitete, die nun Bedeutung bekommen. Sind hier Satanisten am Werk oder radikale Fortschrittsgegner wie seinerzeit der „Unabomber“ Theodore Kaczynski?

Doch die Dystopie eines Techno-Terrorismus unklarer Herkunft und Zielsetzung gewinnt nicht an Fahrt. Eine Zeit lang bleibt der Erzählstrang erhalten, doch mit Fortdauer des Romans verliert sich dieses Motiv. Als hätte Houellebecq bewusst eine falsche Fährte gelegt, die nicht nur Geheimdienste, sondern auch Leser im Dunkeln tappen lässt. Stattdessen wird aus dem Politroman, der als Thriller begann, zunehmend ein Familien- und Eheroman, der für diesen Autor ganz unerwartete Züge annimmt. Auch hier legt er eine falsche Spur und lässt zunächst sowohl Paul als auch seinen Bruder Aurélien Ehehöllen durchleben, wie man sie von Houellebecqs Büchern gewohnt war. Doch Paul und seine in seltsame Esoterik-Zirkel abgedriftete Frau Prudence finden wieder zusammen. Die an der großen Tradition des französischen Gesellschaftsromans orientierten breiten Schilderungen des Familienalltags des gehobenen Mittelstands konfrontieren die Leser mit obskuren neoreligiösen Bewegungen wie Wicca und Neopaganismus, aber auch mit sehr konkreter Sozialkritik.

Denn Frankreich ist im Jahre 2027 doch kein Paradies, das bekommt Paul vor allem im Zusammenhang mit den speziell in der Provinz verheerenden Zuständen im Gesundheits- und Pflegewesen, wo Euthanasie gelebte Praxis ist, zu spüren. Sein Vater kommt zunächst dank glücklicher Umstände in eine Einrichtung für Wachkomapatienten, in der sogar seine Lebensgefährtin bei ihm bleiben darf. Als aufgrund von Spitalsintrigen diese Sonderbehandlung eingestellt wird, schweißt das die Familie – neben den beiden Brüdern gibt es noch die ziemlich katholische Schwester Cécile und die jeweiligen Partner – zusammen. Es ergeben sich Kontakte zu einer Aktivistengruppe, die den Vater in einer Kommandoaktion aus dem Spital holt, ihn wieder der häuslichen Pflege übergibt und ihm damit das Leben rettet. Um die Polizei-Ermittlungen zu unterdrücken, lässt der an sich äußert korrekte Staatsdiener Paul seine Kontakte spielen. Was ihm nicht gelingt, ist die Verhinderung einer medialen Aufdecker-Story mitten im Wahlkampf – eine Racheaktion seiner Schwägerin, die Pauls Bruder Aurélien in den Selbstmord treibt.

„Vernichten“ ändert gegen Ende jedoch noch einmal den Kurs und steuert ein überraschendes Finale an. Was vorher Züge eines Polit-Thrillers und eines zeitgenössischen Familienromans hatte, wird unversehens zur persönlichen Tragödie. Bei Protagonist Paul, über dessen persönliche Verfasstheit wir bisher vor allem durch ausführliche Schilderungen seiner Träume informiert wurden und der nach der Medienaffäre in den zeitweiligen Ruhestand versetzt wird, wird aggressiver Krebs im Rachenraum entdeckt, der nur durch Entfernung eines Unterkieferteils und der Zunge zu bekämpfen wäre. Paul verweigert sich der Radikalbehandlung und tritt als 50-Jähriger in die Endphase seines Lebens ein, in der gemeinsam mit seinem nahezu bewegungsunfähigen Vater im Rollstuhl betrachtete Sonnenuntergänge, sexy Mini-Shorts der Gattin und viel zärtlicher ehelicher Sex die Hauptrollen spielen. Der große Einzelgänger und Misanthrop Michel Houellebecq schlägt hier nie gekannte Töne an und scheut auch den Kitsch nicht.

Doch, darüber sollen die tollen Wirtschaftsdaten das Anfangs ebenso wenig hinwegtäuschen wie das persönliche Schicksal mit seinem romantisch-tragische Ende: Die politische Prognose bleibt pessimistisch und fatalistisch. „Für Paul schien es klar zu sein, dass das ganze System in einem gewaltigen Kollaps zusammenbrechen würde, ohne dass sich zum jetzigen Zeitpunkt das Datum oder die genauen Umstände vorhersagen ließen – doch dieses Datum konnte nah und die Umstände konnten gewaltsam sein.“ Und so lauten Pauls letzte Worte in dem über 600-seitigen Roman: „Ich glaube nicht, dass es in unserer Macht lag, die Dinge zu ändern.“

Interessanterweise sorgt der Schlusssatz von Houellebecqs Danksagung derzeit mehr für mediale Aufregung: „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.“ Im Interview mit „Le Monde“ hat er jedoch klargestellt, dass er weiterschreiben werde. Bis ihn die Kraft verlassen werde. Weitere Spekulationen über seinen Gesundheitszustand dürften daher nicht ausbleiben.

APA

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