Der Zwang zum besseren „Ich“.

Wir leben in einer Zeit, in der „Gut“ nicht mehr gut genug ist. Der Glaube an die ständige Selbstoptimierung ist zu einem stillen, aber gnadenlosen Diktat geworden. Von der perfekten Morgenroutine über die maximale Effizienz im Job bis hin zur optimierten Work-Life-Balance – der Mensch ist zu seinem eigenen Dauerkunstprojekt geworden.

Die Ideologie der Selbstoptimierung suggeriert, dass jedes Defizit, jede Unzufriedenheit und jeder Misserfolg allein durch Willenskraft und durch irgendwelche Strategien behoben werden kann. Wer nicht erfolgreich, schlank, diszipliniert und glücklich ist, hat einfach nicht hart genug an sich gearbeitet.

Social Media verstärkt diesen Optimierungswahn exponentiell. Plattformen werden zu Schauplätzen für inszenierte Perfektion. Influencer präsentieren das optimierte Leben als erreichbares Ideal und vermarkten gleichzeitig die Produkte die angeblich dorthin führen.Das Resultat ist ein toxisch-vergleichender Blick auf das eigene Leben. Die Diskrepanz zwischen der gefilterten Perfektion auf dem Bildschirm und der komplexen Realität führt zu Scham und dem Gefühl, nicht genug zu sein.

Wen optimieren wir eigentlich für wen? Und ist ein Leben, das ständig auf Verbesserung ausgerichtet ist, wirklich ein glücklicheres Leben? Oder verlieren wir auf der Jagd nach dem besseren „Ich“ nicht das Wesentliche die Fähigkeit, das gegenwärtige Ich wertzuschätzen?

Dieser ständige Zwang zur Optimierung kostet uns noch mehr als nur Energie: Er raubt uns die Authentizität. Wer sich permanent selbst überwacht und bewertet, verlernt, intuitiv und spontan zu handeln. Das „echte Ich“ wird zugunsten einer Marke Ich zurückgedrängt einer glattgeschliffenen, fehlerfreien Fassade, die auf die Zustimmung anderer ausgerichtet ist.

Wie entkommen wir diesem radikalen Leistungsdruck, der uns überall umgibt? Die Lösung liegt nicht in der besseren Selbstoptimierung, sondern in der „Ent-Optimierung„.Nur wer sich erlaubt, unperfekt zu sein, kann die ständige Optimierungskultur wirklich hinter sich lassen und wahre Gelassenheit finden.

Auch ich war einige Jahre diesem Wahnsinn ausgeliefert, Ich habe minutiös meine Produktivität getrackt, meine Ernährung „optimiert“ und mich ständig gezwungen, mindestens ein neues Skillset pro Quartal zu erlernen. Jede freie Minute wurde mit dem Gedanken verbracht, sie besser nutzen zu können. Ich war eine wandelnde Checkliste, und meine innere Uhr tickte unaufhörlich auf Effizienz.

Erst als ich realisierte, dass mich dieses Streben nach dem hypothetisch perfekten „Ich“ unglücklicher und erschöpfter machte, als ich es je zuvor war, wurde mir bewusst dieser sogenannten Perfektione keinen Spielraum mehr in meinem Leben zu geben. Die wahre Rebellion unserer Zeit besteht vielleicht nicht darin, uns ständig zu verbessern, sondern uns einfach so zu akzeptieren, wie wir sind. Denn nur, wenn wir den Leistungsdruck abschütteln, können wir die komplexen Freuden und unplanbaren Schönheit des unperfekten menschlichen Lebens wiederentdecken.

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Andreas Schwarz

KULTUR HÖREN