DEUTSCHLAND

Kunst der Kärglichkeit

Und so beginnt Redlich mit dem, was sie berühmt gemacht hat: einer Folge von völlig identischen Panels, bis es dann zu einer winzigen Veränderung kommt. Der Stein öffnet die Augen.

Redlichs markanter Minimalismus hat hier seinen idealen Gegenstand gefunden: einen Stein. Also ein Gebilde, das noch weit weniger Abwechslung genießt als wir, könnte man meinen.

Und so beginnt Redlich mit dem, was sie berühmt gemacht hat: einer Folge von völlig identischen Panels, bis es dann zu einer winzigen Veränderung kommt. Der Stein öffnet die Augen.

Augen bei einem Stein? Ja, Redlich belebt das Unbelebteste, was man sich vorstellen kann, und das wichtigste Mittel dazu sind natürlich Augen. Mehr als die, eine winzige Nase und einen Mund braucht der Stein gar nicht, um Persönlichkeit zu entfalten. Auch seine Umgebung ist immer gleich: eine Horizontlinie, die grüne Wiese und blauen Himmel trennt. Aber auf dieser kargen Bühne ist die Hölle los.

Warum heißt der Band nun „Stones“, spricht also von Mehrzahl? Auch das ist ein subtiler Trick, denn wir dürfen nicht einmal sicher sein, dass es sich jeweils um denselben Stein handelt, auch wenn unsere Lesegewohnheiten das suggerieren. Die völlige Austauschbarkeit ihres Protagonisten ist Programm. Auf etwas mehr als siebzig Seiten wird der Stein/werden die Steine mit ständig neuen Eindrücken konfrontiert .

Aus der Rolle fällt er/fallen sie nie: keine Dialoge mit der Umgebung, nur mit uns als Betrachtern – da wird die vierte Wand munter eingerissen. Auch die Handlungszeit ist bis auf ein zwei Ausnahmen aufgehoben. Wie lange es dauert, bis der Stein von einer Schnecke überquert worden ist („At first I felt disgusted, but then connected“), muss man für sich selbst entscheiden.

Der Tritt mit einem Wanderstiefel, der den Stein aus den Panels herauskickt, bis er nach einer vollkommen entsteinten Doppelseite wieder hineinfliegt, kann man dagegen in eine vertraute Chronologie einordnen. Trotzdem könnte der rasch zu lesende Comic leicht Millionen von Jahren abdecken. Was wissen wir denn, wie lange ein Stein auf Sensationen warten muss?

Wir dagegen blättern atemlos um, denn Redlich hat ihre Kunst der Kärglichkeit hier auf die Spitze getrieben und gerade dadurch einen wunderbar witzigen Comic geschaffen. Dessen simple Form könnte dazu verleiten anzunehmen, das könnte man auch selbst. O nein, so etwas kann nur Nadine Redlich. Mit ihrem Band allen da draußen in oder außerhalb der vier Wände ein gutes neues Jahr!

Komik und Tragik gehören für Nadine Redlich zusammen. „Wenn ich ein Drama schreiben würde, hätte es trotzdem komische Elemente“, sagt sie. Besonders gut gefallen habe ihr deshalb die Zuschrift einer Leserin, die berichtete, dass sie Redlichs „Paniktotem“ im Besucherzimmer ihrer Psychotherapeutin entdeckt habe.

Nadine Redlich wurde 1984 in Düsseldorf geboren, wo sie noch heute lebt und arbeitet. An der Fachhochschule Düsseldorf studierte sie Kommunikationsdesign. Als Illustratorin zeichnet Redlich unter anderem für „Die Zeit“, die „New York Times“ und die „Süddeutsche Zeitung“. Zu ihren Auftraggebern gehören auch „Le Monde“ und Google. Mit ihrem Band „Ambient Comics“ wurde sie 2018 für den Max-und-Moritz-Preis nominiert. 

© Sabrina Weniger

Kultur Online TV

#kultur #kunst #stein