Rache ist eine Fantasie der Machtlosen

George Orwell reiste als Kriegsreporter 1945 durch das besiegte Deutschland. Seine Beobachtungen sind erstaunlich weitsichtig.

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Der Band „Reisen durch Ruinen“ sammelt Orwells Reportagen von März bis November 1945. Er war als Kriegsberichterstatter der Alliierten in Deutschland und dokumentierte die Niederlage der Nationalsozialisten aus größter Nähe.

Zudem finden sich in dem bei Beck erschienenen Band drei seiner Artikel zu Deutschland von 1940, 1943 und 1945. Diese Texte sind auch heute noch hochspannend, beschreiben sie doch vorurteilslos und hellsichtlich die Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Zwischen März und November 1945 reiste der britische Autor George Orwell als Kriegsberichterstatter durch Deutschland und Österreich. Er schrieb für englische Zeitungen. Seine Reportagen schilderten frei von Triumph- oder Rachegefühlen, welche Zerstörung der Krieg über Städte, Länder und Menschen gebracht hatte.

Teilweise zeigte er sogar Verständnis für die gebeutelte Bevölkerung und die gedemütigten Soldaten. Es ist zu vermuten, dass Orwells Urteil über die Deutschen härter ausgefallen wäre, hätte er auch eines der befreiten Konzentrationslager besucht.

1936 hatte er noch als Freiwilliger vergeblich auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Neun Jahre später hatte die Zerstörung unvorstellbare Dimensionen erreicht.

Orwell empfand die mangelnde Lebensmittelversorgung und die Zerstörung als bedrückend und war skeptisch, wie das gewaltige Trümmerfeld von der Normandie bis nach Stalingrad wiederaufgebaut werden könne. Er sah eine humanitären Katastrophe auf Europa zukommen. Millionen Displaced Persons irrten durch die Länder, hinzu kamen Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten. Unklar war auch, wie mit Deutschland und den Millionen deutschen Kriegsgefangenen zu verfahren sei.

Die Texte aus jener Zeit sind nun unter dem Titel „Reise durch Ruinen“ erschienen. Seine Reportagen sind einige Jahre vor seinem wohl berühmtesten Roman „1984“ erschienen. Die „Animal Farm“ war noch nicht veröffentlicht.

Laut Orwell wäre die Lösung für die Probleme eine multilaterale Welt, in der die Siegernationen auch künftig zusammenarbeiten müssten. Orwells Hoffnung setzte sich jedoch nicht so ganz durch. Spätestens mit dem Brexit, scheint sich auch in seiner Heimat das durchgesetzt zu haben, vor dem Orwell immer gewarnt hatte. Er fürchtete schon zu Beginn des „Kalten Krieges“ das Scheitern der multilateralen Nachkriegsverhandlungen. In seinem Erfolgsroman „1984“ malte er dies in den düstersten Farben aus.

Die im vorliegenden Band versammelten Reportagen und Essays legen nahe, dass die Erfahrungen als Kriegskorrespondent prägend dafür waren. Heute, umgeben von den ideologischen Schlachten des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wünscht man sich manchmal mehr teilnehmende Beobachter wie Orwell.

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