Ein Luftikus als tragischer Held: Monika Helfers „Löwenherz“

Mit ihren Romanen „Die Bagage“ und „Vati“ hat die Vorarlbergerin Monika Helfer Leserschaft und Kritik gleichermaßen überzeugt. Nun beschließt sie ihre Familientrilogie mit Erinnerungen an ihren Bruder Richard. 

Es ist nicht nur das einfühlsame Porträt eines eigenbrötlerischen Menschen und erzählt eine tragische, traurige Geschichte, diesmal sind auch die Autorin und ihr Mann, der Schriftsteller Michael Köhlmeier, im Text präsenter als je zuvor.

Richard, von seinem Vater in Anlehnung an den von den Babenbergern 1192 bei seiner Rückkehr von einem Kreuzzug festgesetzten englischen König „Löwenherz“ genannt, haben die Leser schon in den beiden vorangegangenen Bänden kurz kennengelernt. Er war der Bruder der drei Schwestern Monika, Gretel und Renate und wuchs nach dem Tod der Mutter bei einer anderen Tante auf. In einer der vielen unglaublichen Szenen des Buches fragt Monika bei einem Abendessen aus heiterem Himmel: „Lebt der Bruder Richard eigentlich noch?“ Worauf ein Absurdität kaum zu überbietender Verwandtschaftsbesuch in Feldkirch organisiert wird, bei dessen Vorbereitung die ersten Bananen konsumiert werden und der sich stumm gebende Bruder beim Essen neben dem tatsächlich blinden Onkel sitzt und sich nur mit einer Verbeugung von den Schwestern verabschiedet.

Dass die „Bagage“ genannte Familie von den übrigen Menschen als absonderlich betrachtet wurde, ist uns seit Beginn der Trilogie bekannt. Salopp könnte man sagen: Richard schießt nun den Vogel ab. Doch einerseits verbietet sich diese Flapsigkeit angesichts eines Lebens, das nach 30 Jahren durch eigene Hand beendet wurde, andererseits macht Monika Helfer selbst aus dem Leben dieses Sonderlings, der sich um Konventionen nichts scherte, keine Ansammlung von Skurrilitäten und Merkwürdigkeiten, sondern eine empathische und gleichzeitig nüchterne Erinnerungs-Übung, die immer wieder aufs Neue feststellt, dass sie Dinge beschreiben und festhalten, aber nicht erklären kann.

Hier kommen die Autorin und ihre Männer immer wieder ins Spiel. Noch nie hat Helfer so offenherzig über ihr eigenes Leben geschrieben, über ihre unglückliche Ehe an der Seite ihres ersten Mannes und ihren „Liebhaber“ Michael, der später ihr zweiter Mann wurde und schon früh die Zuneigung Richards gewann. Deswegen ist Michael immer wieder auch Auskunftspartner und mit Fragen konfrontiert: „Wie war das damals?“ Oder: „Wie war er?“ Eine von Michaels Antworten lautet: „Er wurde zu einer Figur in den Geschichten, die er sich permanent ausdachte.“

Richard nimmt das Leben und die Wahrheit nicht ernst und treibt seine Umgebung damit zur Verzweiflung. Er ist ein „Schmähtandler“, wie es seine Schwestern formulieren, ein „Luftikus“, wie er als Achtjähriger in einer Abgängigkeitsanzeige genannt wird. Nie weiß man, woran man bei ihm ist. Das ist eines der Grundmotive. Doch bald schält sich eine zweite Hauptfigur heraus, deren Geschichte um nichts weniger tragisch ist: Putzi. Sie ist die kleine Tochter einer jungen Frau, die eines Tages dem ertrinkenden Richard das Leben rettet. Dadurch, so findet Kitti, stehe er bei ihr in der Schuld und möge diese abtragen, indem er die Vaterrolle bei Putzi einnehme. An sich denkt man, Kitti passte ideal zu Richard: zwei Außenseiter, die so leben, wie es ihnen gefällt. Doch Kitti ist noch unverfrorener und in ihrem Egoismus grenzenlos. Sie spürt, dass er ihr nichts entgegensetzen kann und nützt ihn gnadenlos aus. Mehrmals gibt sie Putzi einfach bei Richard ab, saust davon und meldet sich erst Wochen später wieder. So bekommt Richard eine kleine Tochter, ohne ihr Vater zu sein.

Zwischen Richard und Putzi entwickelt sich eine wunderschöne Geschichte von Liebe, Zuneigung und Fürsorglichkeit, in die auch der Hund Schamasch mit einbezogen wird. Sie geht für keinen der Beteiligten gut aus und zerreißt einem fast das Herz. Sie ist voller scheinbarer Widersprüche – so ist der privat sonst höchst unzuverlässige Richard offenbar ein tüchtiger und zuverlässiger Schriftsetzer und dem Kind rührend zugewandter Ziehvater – und voller Höhen und Tiefen. Einmal verliebt sich eine toughe Anwältin in Richard und sieht in ihm das passende Gegenstück zur eigenen Überkorrektheit. Sie heiratet Richard und möchte Putzi, deren Mutter seit langem abgetaucht ist, adoptieren. Der Versuch, aus unklaren Verhältnissen eine auch rechtlich abgesicherte glückliche Familie zu machen, geht gründlich schief. Es ist der Anfang vom Ende.

An ihr Ende sind auch Monika Helfers Familienerinnerungen angelangt. „Löwenherz“ ist der starke Abschluss eines beeindruckenden erzählerischen Projekts, mit dem sich Helfer in die erste Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geschrieben hat.

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